YouFM – Rechtsextremismus in Hessen

Gibt es Rechtsextremisten im YOUniverse?

Ja, und zwar nicht wenige. In ländlichen Gebieten können sie nach Expertenmeinung besonders leicht Fuß fassen. Sie richten sich dort ein und sind für die Dorfbewohner nicht leicht zu erkennen. Denn die Gleichung Springerstiefel, Glatze und Bomberjacke geht heute nicht mehr auf. Die Zahl rechtsextremer Gewaltdelikte in Deutschland hat seit März dieses Jahres kontinuierlich zugenommen und im Juni mit 78 einen Höchststand erreicht. 2009 registrierte der Verfassungsschutz in Hessen 2100 Rechtsextremisten und 797 Delikte, darunter 22 Gewalttaten inklusive einer versuchten Tötung. Im bundesweiten Vergleich liegt Hessen damit zwar weit hinten, doch gibt es auch dort rechtsextremistische Hochburgen, die nicht ungefährlich sind. Dazu zählen der Wetterau-, der Schwalm-Eder- und der Lahn-Dill-Kreis.

Neue Gruppierungen mit hohem Gewaltpotential

Besonders im Raum Wetzlar und Umgebung blüht laut Verfassungsschutz die rechtsextreme Szene auf. Oft geht es hier um Auseinandersetzungen zwischen Rechts- und Linksautonomen. Außerdem haben viele Gruppen, die dort aktiv sind, keine eindeutige politische Richtung und fühlen sich auch der NPD nicht direkt verbunden. Doch gelten sie insgesamt als besonders gewalttätig. Diese rechtsextremistischen Gruppen im YOUniverse sind mit anderen bundesweiten Gruppen vernetzt und setzen weniger auf Inhalte als auf erlebnisorientierte Aktionen.

Reden über Neonazis

Der Journalist Johannes Radke (29) ist Rechtsextremismus-Experte. Er hat das „Netz gegen Nazis“ gegründet und betreut das ZEIT-Portal „Störungsmelder“, das sich mit den aktuellen Aktivitäten von Rechtsextremisten beschäftigt. Er weiß, wie Rechtsextreme neue Leute für ihr rechtes Gedankengut werben und warum junge Menschen zu Neonazis werden, ohne es gleich zu bemerken. Viele Rechtsextremen treten nach außen hin friedlich auf und versuchen sich in die örtliche Gemeinschaft zu integrieren. Sie sind in der Jugendarbeit in Vereinen, Sportclubs oder in der Kinderbetreuung aktiv. Nicht immer bleiben sie unentdeckt. Wie zum Beispiel im Dorf Gettenau / Echzell im Wetteraukreis. Dort hat sich Anfang 2008 ein kreisbekannter Rechter niedergelassen, gegen den sich jetzt einige Bürger zu wehren versuchen.
Patricks Spitzname ist Schlitzer

In einem Fernsehbeitrag sagt Patrick (24) von sich selbst: „Ich bin national eingestellt, aber Nazi bin ich keiner“. Auf seinem T-Shirt prangt dabei die Aufschrift: „Nicht nur sauber sondern rein! Arier“. Sein Geld verdient der 24-Jährige mit einem Tattooladen und einer Securityfirma, seine Frau betreibt einen Taxibetrieb. Nach Echzell ist Patrick vor zwei Jahren gezogen. Bei der Polizei ist Patrick wegen „einer Liste von Straftaten“ bekannt, unter anderem wegen Körperverletzung und Volksverhetzung. „Wir ordnen ihn der rechtsextremen Szene zu. Doch nach außen tritt er eher als Kirmesschläger auf, der laute Feste mit vielen Gästen feiert und dort seine gleichgesinnten Kumpanen um sich schart“, sagt Jörg Reinemer, Polizeisprecher des Polizeipräsidiums Wetterau. Immer wieder gibt es Auseinandersetzungen zwischen den Nachbarn und Patrick. „Es gibt Anzeigen von beiden Seiten. Dabei geht es um Nötigung, Sachbeschädigung und Körperverletzung“ sagt Reinemer. Anfang Juli ist die Situation erneut eskaliert, als Patrick unter seinem Pseudonym „pauldeprinz“ ein Video mit hämischen Kommentaren auf Youtube eingestellt hat. Zu sehen ist ein Nachbar, der nach einem Streit versucht, die Kameras zu entfernen, die auf sein Haus gerichtet sind und dabei von etwa 15 Partygästen von der Leiter gezerrt wird, die ihm die Hose und Unterhose ausziehen.

„Viele raffen gar nicht, was da abgeht“

Die 19-Jährige Azubine Agnes (Name verändert) hing früher bei Patrick im Tattoo-Studio in Wölfersheim ab. Sie sagt, dass wer Patrick gekannt habe, sich sicher und cool gefühlt habe. „Es lief prinzipiell immer rechte Musik in seinem Laden: Dort wurden auch rechte Tatoos gestochen. Aber da hast Du drüber hinweggesehen. Vielleicht auch, weil Vorurteile hier in der Ecke ganz schön verbreitet sind.“

Freitag und Samstag wird gefeiert

Das Patrick und seine Gruppe nennen sich „Old Brothers“. Sie tragen entsprechende Jacken mit Logos und schmücken damit ihre Autos. Seine engsten Leute sind mit ihrem Fingerabdruck an Patricks Hoftor registriert. Seinen Eingang überwacht er mit Kameras. Patrick sagt, dass sie gerne abgekapselt seien. „Denn wenn wir wo auftauchen, werden wir provoziert und meistens geht das für die anderen nach hinten los“. Am Wochenende feiert der Old Brothers Stammtisch gemeinsam mit Patricks Freunden aus der Umgebung geschlossene Parties auf seinem Hof oder in Lokalitäten im Umkreis, die er im sozialen Netzwerk „Wer kennt wen“ ankündigt.

Still aus Angst und Desinteresse

Die 17-Jährige Anne (Name geändert), die aus Angst ihren Namen nicht nennen will, sagt, dass man Rechtsgesinnten auf dem Land besser aus dem Weg gehe und sich mit Aussagen gegen sie zurückhalte, um keinen Ärger zu bekommen. „Entweder bist du links, rechts oder still.“ Vor allem unter den 15- bis 20-Jährigen sei die Anziehungskraft rechtsextremistischer Gruppen enorm hoch.

Wie die Bürger sich wehren

Viele Bürger in Echzell wünschen sich, dass Patrick ihren Ort verlässt. Deshalb haben sie sich im Dezember 2009 in der Bürgerinitiative „Grätsche gegen Rechtsaußen“ zusammengeschlossen. Sie dokumentieren die Aktivitäten von Patricks Gruppe „Old Brothers“ und versuchen in Zusammenarbeit mit anderen Vereinen, Schulen, Kirchengemeinden, dem Gemeindevorstand und der Kommunalverwaltung gegen Patrick und seine Gruppe anzugehen.

Mit Musik gegen Rechtsaußen

Auch die Politik (SPD und Linke) hat sich inzwischen der Situation in Echzell angenommen. Am 26. August 2010 tagt der hessische Innenausschuss in einer Sondersitzung unter dem Titel: „Jagd auf Menschen durch Neonazis in Echzell“. Und am 28. August steigt in Echzell das von der Bürgerinitiative organisierte Festival „Gemeinsam gegen Rechtsaußen“ mit der Band „Fräuleinwunder“.

Hilfe für Anwohner

Nicht in allen Dörfern, in denen sich Rechtsextreme niederlassen, sind die Anwohner so engagiert. Oft wissen die Betroffenen nicht, wie sie sich verhalten sollen oder haben Angst. Das „Beratungsnetzwerk Hessen“ bietet kostenlos Hilfe in konkreten Krisensituationen an.

Hilfe für ausstiegswillige Rechtsextremisten

Wer einmal in die rechtsextremistische Szene abgerutscht ist, dem fällt der Ausstieg oft schwer. Selbst wenn man sich von der Ideologie gelöst hat, ist es ein riesiger Schritt, den Ausstieg zu wagen. Wer sich von der Szene lösen möchte, braucht Mut und Beratung. Das „Informations- und Kompetenzzentrum Ausstiegshilfen Rechtsextremismus“ (IKARus) bietet Hilfe. Auch für Freunde und Familienmitglieder von Menschen, die dabei sind, in die Szene abzurutschen.

© Hessischer Rundfunk 2010

 

 

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